Obhuts- und Aufsichtspflichten und –rechte im digitalen Raum: Rechtliche Informationen für stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
Rahel Heeg
Fachliche Beratung: Prof. Dr. Peter Mösch Payot (Hochschule Luzern) (2020, 2025), Daniel Sollberger (Kantonspolizei Basel-Stadt / Jugend- und Präventionspolizei) (2020)
Begriffsklärungen
Die Obhut ist ein Teilbereich der elterlichen Sorge. Obhut beinhaltet das Recht, über den Aufenthalt, über die Pflege und Erziehung einer Minderjährigen oder eines Minderjährigen zu bestimmen. Obhut beinhaltet einerseits Rechte (z.B. Regeln erlassen) und andererseits Obhutspflichten.
Zu den Obhutspflichten gehört es, Fragen der Betreuung des Kindes im Alltag mit Blick auf das Wohl des Kindes zu regeln und dabei die Meinung des Kindes und seine Wünsche und Bedürfnisse zu berücksichtigen. Damit verbunden ist die auf die Alltagsbetreuung bezogene Verantwortung für die körperliche, geistige, seelische und soziale Integrität des Kindes. Davon zu unterscheiden ist das Aufenthaltsbestimmungsrecht, welches beinhaltet, über den Aufenthalt des Kindes zu entscheiden.
Die Obhut kann in unterschiedlichem Ausmass vom Träger des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf Dritte übertragen werden, z.B. auf ein Heim oder auf eine Einrichtung zur Tagesbetreuung.
Der Begriff der Schutzpflicht meint die Pflicht, dem Kind Schutz vor Gefährdungen oder Verletzungen zu gewähren. Dies Pflicht entsteht in Betreuungsverhältnissen zum Beispiel aus dem gesetzlichen Verhältnis von Eltern und Kindern oder aus einem Auftrag nach Obligationenrecht (bei Einrichtungen). Für stationäre Einrichtungen besteht ausserdem eine Pflicht zum Schutz der Persönlichkeit und der notwendigen Freiheiten der persönlichen Lebensgestaltung.
Der Begriff der Aufsichtspflicht meint die Pflicht, Kinder angemessen zu betreuen und zu beaufsichtigen, und soweit möglich zu verhindern, dass sie Dritte gefährden oder verletzen (entsprechend der konkreten Situation und dem Alter, Charakter und der geistigen Reife des Kindes). Das Mass der geforderten Sorgfalt in der Kinderbeaufsichtigung ist somit einzelfallabhängig. Grundsätzlich haben die Eltern als Teil der elterlichen Sorge und der Obhut die Aufsichtspflicht über ihre Kinder. Die Aufsichtspflicht kann an andere Personen übergeben werden, beispielsweise an eine Kinderkrippe und ihre Mitarbeitenden. Mit der Aufnahme in eine Einrichtung übernimmt die Einrichtung die Aufsichtspflicht über ein Kind nach dem Mass der konkreten Übertragung von Betreuung und Pflege während dessen Anwesenheit in der Einrichtung.
Verursacht eine Person, die unter Aufsichtspflicht steht, einen Schaden, so ist die Einrichtung für den Schaden haftbar, wenn die Beaufsichtigung nicht in einem üblichen und durch die Umstände gebotenen Mass von Sorgfalt geschah.
Disziplinarmassnahmen werden erhoben, um Verstösse gegen Regeln zu ahnden mit dem Ziel, dass zukünftig die Pflichten wieder eingehalten werden. Im pädagogischen Kontext wird dieser juristische Begriff kaum verwendet, stattdessen wird eher von Regeln oder Konsequenzen gesprochen.
Sicherheitsmassnahmen haben den Zweck, (direkt oder indirekt) Sicherheit zu ermöglichen.
Freiheitsbeschränkende Massnahmen sind Massnahmen, mit denen in die Persönlichkeitsrechte der Kinder und Jugendlichen eingegriffen wird. Dazu gehören etwa Eingriffe in die Wahrnehmung von Persönlichkeitsrechen, in die körperliche und geistige Unversehrtheit oder in die Bewegungsfreiheit.
Das schweizerische Zivilgesetzbuch betont die Persönlichkeitsrechte aller Menschen, also auch von Kindern und Jugendlichen. Nach dem ZGB haben alle Menschen in den Schranken der Rechtsordnung die gleichen Rechte und Pflichten (Art. 11 ZGB). Nach Art.28 ZGB hat jedes Individuum ein Recht auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit unter anderem in folgenden Persönlichkeitsbereichen:
- Physische Persönlichkeit: Schutz der körperlichen Integrität, Bewegungsfreiheit
- Affektive (emotionale) Persönlichkeit: Schutz vor unmittelbaren und nachhaltigen Beeinträchtigungen im seelisch-emotionalen Lebensbereich
- Soziale Persönlichkeit: Geheim- und Privatsphäre, Verschwiegenheit, informationelle Freiheit (u.a.)
Urteilsfähig sind Personen, wenn sie in einer konkreten Lebenssituation in der Lage sind „vernunftgemäss“ zu handeln. Das heisst, wenn sie die Tragweite des eigenen Handelns grundsätzlich begreifen können (Erkenntnisfähigkeit) und fähig sind, gemäss dieser Einsicht aus freiem Willen vernunftgemäss zu handeln (Willensumsetzungsfähigkeit). Diese Urteilsfähigkeit kann auch bei minderjährigen Kindern bestehen und hat Selbstbestimmungsrechte im Bereich der höchstpersönlichen Rechte zur Folge (Art. 19c ZGB).
Gefährdungsmeldung: Melderechte gegenüber KESB: Jede Person kann der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet erscheint. Wenn die Meldung im Interesse des Kindes liegt, sind auch Personen meldeberechtigt, die dem strafrechtlichen Berufsgeheimnis unterstehen, ohne dass sie sich spezifisch vom Berufsgeheimnis entbinden lassen müssen (Art. 314c ZGB).
Gefährdungsmeldung: Meldepflichten gegenüber KESB: Meldepflichtig an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ist, wer in amtlicher Tätigkeit oder als Fachperson im beruflichen regelmässigen Kontakt in Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport von folgender Situation erfährt: Es bestehen konkrete Hinweise auf die Gefährdung der körperlichen, psychischen oder sexuellen Integrität eines Kindes und der Gefährdung kann im Rahmen der eigenen Tätigkeit nicht Abhilfe geschaffen werden (Art. 314d ZGB).
Überblick über Faktenlage
Grundsätzlich haben die Eltern die elterliche Sorge und damit verbunden das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Obhut- und die Aufsichtspflicht. Sie vertreten ihr Kind gegenüber Dritten, etwa einer Institution, in der das Kind lebt.
Mit der freiwilligen oder behördlichen Platzierung eines Kindes in eine Einrichtung der Jugendhilfe werden per Pflegevertrag ein Teil der elterlichen Aufgaben und Befugnisse zur Erziehung sowie Verpflichtungen zum Schutz des Kindes auf die Einrichtung übertragen. Die Einrichtung vertritt die Eltern nach Mass und Umfang der übertragenen Betreuung in ihrer Aufgabe der alltäglichen Erziehung. Sie verpflichtet sich für eine «getreue und sorgfältige» Ausführung des Auftrages gemäss Obligationenrecht. Wichtige Angelegenheiten werden aber weiterhin von den Inhabern der elterlichen Sorge beziehungsweise eventuell einer Beiständin oder einem Vormund entschieden. Wie im gesamten Vertragsrecht ist besonders wichtig, was mit Heimverträgen und individuellen Vereinbarungen vertraglich vereinbart wurde und damit beweisbar ist. Mit ihrer Unterschrift akzeptieren Eltern und urteilsfähige Kinder und Jugendliche diese Verträge.
Im Rahmen ihrer Obhut und der übertragenen Betreuung übernehmen Mitarbeitende in Einrichtungen der Jugendhilfe die Verantwortung für die Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen. Dazu gehören auch Massnahmen, um sie zu schützen. Die Einrichtungen haben den Kindern und Jugendlichen entsprechend ihren Möglichkeiten und der konkreten Bedingungen Schutz zu gewähren. Das Mass des notwendigen Schutzes kann nicht allgemein umschrieben werden, es hängt von verschiedenen Faktoren ab (z. B. Entwicklungsstand und individuellen Gefährdungslagen). Zudem muss gleichzeitig die notwendige Freiheit der Lebensgestaltung im Sinne der Selbstbestimmung als Teil des Schutzes der Persönlichkeit gewährt werden.
Im Rahmen ihrer Aufsichtspflicht haben Mitarbeitende entsprechend ihrer Möglichkeiten und der konkreten Bedingungen dafür zu sorgen, dass die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen keinen Schaden bei anderen anrichten bzw. niemanden schädigen. Die Aufsichtspflicht steht in einem Spannungsverhältnis zur ebenfalls zu gewährleistenden Selbstbestimmung der Betroffenen. Das Mass der Beaufsichtigung kann vor diesem Hintergrund nicht allgemein umschrieben werden, es hängt von verschiedenen Faktoren ab (z. B. Entwicklungsstand und individuellen Gefährdungslagen). Wichtig: In der Schweiz sind Kinder ab 10 Jahren strafrechtlich mündig, damit tragen auch sie individuell Verantwortung, wenn sie gegen das Strafrecht verstossen.
Gemäss Gesetz (Art. 333 ZGB) haftet das «Familienhaupt» für Schäden durch Personen, die seiner Aufsicht unterstehen. Als Familienhaupt gelten dabei natürliche und juristische Personen, die eine rechtliche und tatsächliche Möglichkeit haben, das Verhalten von «Hausgenossen» zu beeinflussen und Schädigungen von Dritten zu verhindern. Somit gilt etwa ein Verein, der ein Kinderheim betreibt, als Familienhaupt. Die Einrichtungen oder betreuende Personen können für das Verhalten von Personen, die unter ihrer Aufsicht stehen, haften, wenn sie eine konkrete erwartbare Beaufsichtigung mit Schädigungsfolge unterlassen. Eine solche Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn das konkrete Vorgehen oder Unterlassen der haftpflichtigen Person, unter Berücksichtigung der Aufsichtsmöglichkeiten und der Selbstverantwortung der direkt schädigenden Person, vorwerfbar erscheinen. Wichtig: Die entsprechende Verantwortlichkeit kann bei vorwerfbaren Sorgfaltspflichtverletzungen oder gar Vorsatz auch die Mitarbeitenden der Institution direkt treffen (strafrechtlich, arbeitsrechtlich oder zivilrechtlich).
Ob seitens von Institutionen wie Heimen oder Kinderkrippen Verletzungen der Betreuungs- und Obhutspflicht oder der Aufsichtspflicht vorliegen, kann meist erst entschieden werden, wenn die Verträge und die konkreten Umstände analysiert wurden. In unklaren Fällen gilt der Massstab an Aufsicht und Obhut, der nach Treu und Glauben in der konkreten Situation normalerweise erwartet werden muss.
Kinder- und Jugendheime erhalten als Vertretung der elterlichen Sorge die Berechtigung zu pädagogischen und wo nötig disziplinarischen Massnahmen. Schutz- und Sicherheitsinteressen stehen dabei in einem Spannungsverhältnis zum Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Zu beachten sind die Persönlichkeitsrechte des Kindes: Ein urteilsfähiges Kind kann selbstständig Persönlichkeitsrechte ausüben, ohne dass dabei die Eltern resp. der Beistand oder die Vormundin einzubeziehen sind. Die Urteilsfähigkeit ist immer in Bezug auf eine konkrete Situation zu beurteilen. Ob Persönlichkeitsrechte verletzt werden, bedarf einer Analyse der konkreten Umstände. In unklaren Fällen gilt der Massstab an Persönlichkeitsrechten, der nach Treu und Glauben in der konkreten Situation normalerweise erwartet werden kann.
Auch bezüglich Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten von besonderer Bedeutung ist, was mit einem Heimvertrag (inkl. Reglemente und individuelle Vereinbarungen)konkret und beweisbar vertraglich abgemacht wurde und von den Eltern als gesetzliche Vertretung, aber auch von den betroffenen urteilsfähigen Kindern und Jugendlichen vertraglich akzeptiert wurden. Auch bei vorliegenden Verträgen muss die Verhältnismässigkeit der Einschränkung von Persönlichkeitsrechten kritisch geprüft werden. Ausserdem machen nur Vereinbarungen Sinn, welche auch überprüft und durchgesetzt werden können. Verträge und individuelle Vereinbarungen müssen verhältnismässig sein: Die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten muss also immer kritisch daraufhin geprüft werden, ob die Zwecke auch mit weniger einschneidenden Möglichkeiten erreicht werden könnten. Das Prinzip der Verhältnismässigkeit kann nur am konkreten Beispiel geprüft werden. Zu beachten sind zudem die öffentlichrechtlichen Vorgaben der kantonalen oder kommunalen Aufsicht für die familienexterne Betreuung von Kindern und Jugendlichen, bzw. die Betreuung in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe. Auch diese verlangen ein Wahren der Grundrechte und der Selbstbestimmung der Betroffenen und die Orientierung an einer genügenden gesetzlichen Grundlage, am Verhältnismässigkeitsprinzip und an höherrangigen öffentlichen Interessen, wenn Einschränkungen zulässig sein sollen.
Wenn die Ausübung von Persönlichkeitsrechten durch ein urteilsfähiges Kind in einem engen Zusammenhang mit einer Gefährdung oder einem Schutzbedarf des Kindes steht, etwa das intensive Spielen von Computerspielen oder das Austauschen von persönlichen Informationen mit unbekannten Personen via Sozialen Netzwerken, so stehen sowohl die Eltern als Inhaber der elterlichen Sorge als auch die Einrichtung als Obhutsinhaber in der Verantwortung. Es braucht Güterabwägungen, um die Frage zu beantworten, wer letztlich über eine bestimmte Frage entscheiden kann – und ob beziehungsweise wie weit die gesetzlichen Vertreter zu informieren und einzubeziehen sind.
Wenn der Schutzbedarf eines Kindes nicht gewährleistet ist, kann ein Melderecht oder eine Meldepflicht gegenüber der KESB im Rahmen einer Gefährdungsmeldung bestehen. Wegleitend ist die Frage, ob das Kindeswohl gefährdet scheint, ohne dass die Eltern für Abhilfe sorgen. Fachpersonen der Sozialen Arbeit dürfen sich bei Bedarf innerhalb ihrer Dienste absprechen oder können in Zweifelsfällen mit der KESB Rücksprache nehmen. Fallbezogene Rücksprachen mit externen Personen (Lehrpersonen, etc.) sind nur zulässig, soweit es unentbehrlich ist.
Freiheitsbeschränkende Massnahmen im Zusammenhang mit Medien in der Jugendhilfe sind beispielsweise, wenn der Gebrauch von Handys zeitweise oder ganz verboten wird oder wenn bestimmte Soziale Netzwerke gesperrt werden. Motive der Beschränkung können in diesem Kontext sein: Sicherheitsmassnahmen, um die Sicherheit der Betroffenen, von Mitarbeitenden oder von Dritten zu schützen, disziplinarische Massnahmen als Reaktion auf Regelübertretungen und erzieherische Massnahmen zum Wohle der Betroffenen und für deren Entfaltung.
Bei freiheitsbeschränkenden Massnahmen sind folgende Grundsätze zu beachten:
- Kindern und Jugendlichen ist eine ihrer Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung zu gewähren.
- Bei Sanktionen (auch milden) muss die Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu Intensität, Grund, Dauer und Art der Sanktion vorliegen. Die Verhältnismässigkeit (Eignung, Notwendigkeit, Zumutbarkeit) muss dabei immer geprüft und gewahrt werden.
Das Prinzip der Verhältnismässigkeit kann nur am konkreten Beispiel geprüft werden.
Freiheitsbeschränkungen müssen begründet werden. Zulässige Begründungen sind:
- Eine Einwilligung der Betroffenen, wenn sie urteilsfähig sind und über die Massnahme umfassend informiert sind. Ausnahmen bei Urteilsfähigkeit sind nur bei erheblichen Schutz- und Erziehungsbedarf möglich. Eine Vorab-Einwilligung wird umso brüchiger, je länger sie her ist, je schwerwiegender die Beschränkung ist und je weniger die Freiheitsbeschränkung vorhersehbar war.
- Eine gesetzliche Grundlage, um ein öffentliches Interesse resp. um Grundrechte Dritter zu schützen, unter der Bedingung, dass der Eingriff verhältnismässig ist. In einigen Kantonen gibt es Rechtsgrundlagen für Disziplinierungs- und Sicherungsmassnahmen im Jugendstraf- und Jugendmassnahmenvollzug und in der stationären Jugendhilfe.
- Eine Notsituation, die zum Schutz (der Kinder/Jugendlichen oder Dritter) sofortiges Handeln notwendig macht.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen für stationäre Einrichtungen der Kin-der- und Jugendhilfe
Grundsätze
- Bei digitalen Themen ist eine klare Auftrennung der Obhuts- und Aufsichtspflichten von Eltern und Einrichtung tendenziell schwierig, da sich Kinder und Jugendliche kontinuierlich im digitalen Raum aufhalten und es wenig Sinn macht, Handlungen zeitlich klar lokalisieren zu wollen. Beim Thema digitale Medien sollten sich Einrichtung und Eltern darum zwingend als pädagogische Partner verstehen.
- Handlungen im digitalen Raum sind für Aussenstehende nicht unbedingt sichtbar. Sowohl Obhuts- als auch Aufsichtspflichten zu digitalen Themen können darum nur wahrgenommen werden, wenn Einblick in die digitalen Welten der Kinder und Jugendlichen besteht. Nehmen Sie eine wertschätzende Haltung gegenüber den Kindern und Jugendlichen ein und zeigen Sie echtes Interesse an ihrer digitalen Welt, so dass auch problematische Handlungen oder Inhalte zur Sprache kommen können. Wenn Professionelle in erster Linie kontrollierend und sanktionierend auftreten, könnten Kinder und Jugendliche versucht sein, problematische Handlungen und Inhalte zu vertuschen.
- Technische Lösungen, wie z.B. das Blockieren von bestimmten Webseiten, können einen Rahmen für die pädagogische Arbeit geben, sie ersetzen jedoch nie die pädagogische Arbeit, also das Thematisieren von digitalen Themen mit den Kindern und Jugendlichen.
- Pädagogische Massnahmen und disziplinarische Massnahmen (Konsequenzen bei Regelverstössen) sollten eindeutig getrennt sein. Disziplinarische Massnahmen dürfen nur solange und in dem Ausmass angewendet werden, bis wieder pädagogisch gearbeitet werden kann. Wählen Sie immer die Konsequenzen mit der geringstmöglichen Eingriffsintensität.
- Achten Sie darauf, die Persönlichkeitsrechte der Kinder und Jugendlichen zu wahren, d.h. nicht ohne Not die Geheim- und Privatsphäre der Kinder und Jugendlichen zu tangieren.
Prüffragen
- Ist die Beschreibung der Obhuts- und Aufsichtspflichten von Eltern und Einrichtung in Bezug auf digitale Themen transparent? Ist sie inhaltlich sinnvoll, d.h. sind die Zuständigkeitsbereiche und Formen der Zusammenarbeit förderlich für eine optimale Betreuung der Kinder und Jugendlichen?
- Welche Formen des Austauschs pflegen Einrichtung und Eltern zu digitalen Themen? Wie werden diese erlebt?
- Werden beim Austausch zwischen Einrichtung und Eltern die Persönlichkeitsrechte des Kindes gewahrt?
- Sind Kontrollformen und Konsequenzen bei Regelverstössen verhältnismässig (z.B. Handyentzug bei Fehlverhalten)? Wären weniger einschneidende Möglichkeiten vorhanden?
- Wird der Schutzbedarf eines Kindes/Jugendlichen im digitalen Raum durch die Eltern in gravierender Weise nicht gedeckt und ist deswegen eine Gefährdungsmeldung bei der KESB sinnvoll?
Beispiele
Jugendliche, Eltern und eine Vertretung der Einrichtung unterschreiben beim Eintritt in die Einrichtung einen Medienvertrag, in dem steht, dass das Kind mit Einverständnis der Eltern ein Handy besitzen darf und dass die Eltern die Verantwortung für die Übernahme der Kosten, für die Instruktion des Kindes und für die Kontrolle der Nutzung übernehmen. |
Dies ist rechtlich zulässig. Wichtig ist, dass genügend klar vereinbart wird, wer die Kosten trägt, welche Nutzung erlaubt ist, wie und durch wen die Nutzungsart und der Nutzungsumfang bestimmt wird und wer dies wie kontrolliert. Unabhängig von einer solchen rechtlichen Regelung sollte eine Einrichtung sowohl mit den Eltern als auch mit dem Kind einen engen Austausch zu digitalen Themen suchen, da die digitale Welt ein wichtiger Teil der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen ist. |
Die Mitarbeitenden haben entdeckt, dass der 15-jährige Sven mehrmals über seinen privaten Laptop Pornos geschaut hat. Sie informieren die Eltern beim nächsten Elterngespräch darüber. |
Das Thema Sexualität fällt unter die höchstpersönlichen Themen mit besonderen Persönlichkeitsrechten. Hier dürfen Daten nur mit Einverständnis der Kinder/Jugendlichen oder bei überwiegendem Schutzinteresse weitergegeben werden (vgl. Kapitel 2 Persönlichkeitsrechte). Relevant ist bei der Güterabwägung zwischen Svens Persönlichkeitsrechten und den Obhuts- und Aufsichtspflichten der Einrichtung und der Eltern auch die Frage, ob sich Sven strafbar macht. Der Konsum legaler Pornografie ist in der Schweiz nicht sanktioniert. Also verstösst Sven nicht gegen das Gesetz, solange es sich nicht um illegale Formen von Pornografie handelt (vgl. Kapitel 4 Pornografie). |
In einer Einrichtung werden Handys als Sanktion für den Rest des Tages eingezogen, wenn die Kinder/Jugendlichen das Handy während des gemeinsamen Essens benutzen. |
Der Einzug von Handys ist eine freiheitsbeschränkende Massnahme. Dies muss begründet sein und die Zustimmung der Erziehungsberechtigten zu Intensität, Grund, Dauer und Art der Sanktion vorliegen. Wenn in der Hausordnung Orte oder Zeiten festgehalten sind, an denen das Handy nicht erlaubt sind, und eine konkrete (verhältnismässige) Sanktion beschrieben wird, so ist ein Einzug als Sanktion korrekt. Dazu muss unter anderem der Zweck begründet sein (z.B. keine Unruhe beim Essen) und die Einschränkung sachlich und zeitlich beschränkt sein, z.B. Einziehen des Handys bis Ende Nachmittag. Wenn Mitarbeitende Handys ohne eine solche Grundlage, sondern «spontan» als Sanktionsmassnahme einziehen, ist dies ein unerlaubter Eingriff in Besitz und Eigentum. Wichtig: Der Entzug des Zugangs zum Internet (Verbot von Computer, Wegnahme des Handys) ist keine pädagogische, sondern eine disziplinarische Massnahme. Zu überlegen ist, in welcher Weise die Themen pädagogisch bearbeitet werden können. Das Handy einziehen als Konsequenz bei einem Regelverstoss wird nur bei handybezogenem Fehlverhalten empfohlen. |
Eine Einrichtung sperrt bestimmte Webseiten durch eine Sicherheitssoftware. |
Eine Sicherheitssoftware, die einzelne Webseiten sperrt, ist rechtlich zulässig. Eine technische Einschränkung des Zugangs zum Internet ersetzt aber nicht die pädagogische Arbeit. Zu überlegen ist, in welcher Weise Themen wie «nicht kindgerechte Inhalte im Internet» pädagogisch bearbeitet werden können. |
Der 14- jährige Tom hat das Spiel Grand Theft Auto (GTA) ins Jugendheim gebracht. Er plant einen Spielabend mit den anderen Jungs. Der anwesende Sozialpädagoge ist unsicher, ob er das erlauben darf: Das Spiel ist ab 16, aber jeder hat es zu Hause und spielt es. |
Mit dem Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele müssen Veranstalter von öffentlichen Anlässen, Detailhändler und digitale Plattformen für Filme/Videospiele dafür sorgen, dass Minderjährige vor Filmen und Videospielen geschützt werden, die ihre Entwicklung gefährden können. Das Missachten von Altersempfehlungen bei Video-Games haben jedoch keine straf(rechtliche) Konsequenzen für Käuferinnen und Nutzer. Im Einzelfall empfiehlt sich eine Recherche zum jeweiligen Game (z.B. www.spielbar.de) Es wird empfohlen, dass sich Einrichtungen an die Altersempfehlungen halten. Wichtig: in der Einrichtung eine gemeinsame Haltung entwickeln und sowohl mit den Eltern als auch mit den Jugendlichen das Gespräch suchen. Die Einrichtung kann die Eltern nicht zwingen, das Spielen zu Hause zu unterbinden, aber sie kann die eigene Haltung sichtbar machen und begründen. Im Gespräch mit den Jugendlichen sollte eine wertschätzende und interessierte Haltung eingenommen werden. Empfehlung: Ein Verbot von Spielen aufgrund von Altersempfehlungen sollte nicht situativ erfolgen, sondern in einem Medienvertrag geregelt werden. Altersempfehlungen von Games und Filmen unter www.pegi.info/ch/ |
Kevin kommt jedes Wochenende am Sonntagabend übermüdet und überdreht in die Institution zurück. Er erzählt jeweils, er habe die ganze Nacht Horrorfilme geschaut oder Games gespielt. Den Eltern sei das egal. |
Grundsätzlich tragen die Eltern die Verantwortung für ihr Kind, wenn es sich zu Hause aufhält. Die Einrichtung kann die Eltern nicht zwingen, den Medienkonsum von Kevin zu drosseln, aber sie kann die eigene Haltung sichtbar machen und begründen. In Fällen, in denen das Kindeswohl gefährdet erscheint und über den Kontakt mit den Eltern nicht Abhilfe geschaffen werden kann, ist eine Meldung an die KESB verpflichtend. Falls die Eltern dem Kind gesetzlich verbotene Inhalte zur Verfügung stellen (z.B. verbotene Pornografie, reale Gewaltfilme), machen sie sich strafbar (vgl. Kapitel 4 Pornografie). Unabhängig von rechtlichen Fragen sollte aktiv eine wertschätzende Zusammenarbeit angestrebt werden. |
John, 16-jährig, hat eine leichte kognitive Beeinträchtigung. Er hat entdeckt, dass man auf Rechnung im Internet Dinge bestellen kann. Fast jeden Tag kommen Zalando-Pakete in der Einrichtung an. John kann diese gar nicht alle bezahlen. |
Laut ZGB dürfen urteilsfähige Minderjährige ihr eigenes Geld (z.B. Taschengeld oder Lohn von einem Ferienjob) selbständig verwenden (vgl. Kapitel 2 Persönlichkeitsrechte). Jugendliche dürfen also Dinge selbständig bestellen, wenn sie die Rechnung mit eigenen Mitteln bezahlen können und die Folgen der Bestellung abschätzen können. Für den Abschluss eines Vertrages mit finanziellen Verpflichtungen, die nicht mit eigen verdientem Geld bestritten werden können, benötigen Minderjährige die vorgängige oder nachträgliche Zustimmung des gesetzlichen Vertreters, also in der Regel der Eltern. Die Einwilligung kann ausdrücklich oder stillschweigend gegeben werden. Stimmt der gesetzliche Vertreter dem Vertrag nicht zu, wird die Situation so behandelt, als wenn der Vertrag nie geschlossen worden wäre. Wenn John im Zusammenhang mit den Bestellungen als urteilsfähig beurteilt wird und die Eltern als gesetzliche Vertreter von John mit den Bestellungen nicht einverstanden sind, müssen sie dem Verkäufer mitteilen, dass sie die Zustimmung für den Vertrag verweigern. Damit besteht weder ein Vertrag noch eine Zahlungsverpflichtung. Wenn die Eltern nicht aktiv werden, gilt dies als stillschweigende Einwilligung in den Vertrag. In diesem Fall besteht ein gültiger Vertrag zwischen dem Verkäufer und John. Bei Nichtbezahlen droht eine Betreibung. Urteilsunfähige Minderjährige können keine Verträge abschliessen. Wenn John als urteilsunfähig beurteilt wird, sind alle Verträge, die er abschliesst, ungültig. Die Mitarbeitenden der Einrichtung müssen also die Eltern über eintreffende Pakete informieren, damit diese aktiv werden können. Zusätzlich ist zu überlegen, wie John daran gehindert werden kann, Verträge einzugehen, deren Folgen er nicht abschätzen kann (Sperrung von Webseiten, ev. Sperrung bei Zalando etc.). |
Pedro, 15, gibt Adrian, 15, Hotspot, weil dieser sein Datenvolumen aufgebraucht hat. Genau zu diesem Zeitpunkt erhält Adrian von einem Schulkollegen ein Nacktfoto einer Klassenkameradin zugeschickt. Er zeigt es Pedro, beide kichern und machen abschätzige Kommentare über die kleinen Brüste. Adrian schickt das Bild an seine Kollegen weiter. |
Bezüglich Haftung gelten die Regelungen zwischen Einrichtung und Elternhaus. Falls die Eltern die Verantwortung für Pedros Abonnement tragen, tragen sie auch die Verantwortung für Pedros Nutzung (inklusive dem Einräumen der Nutzung des Hotspots). Grundsätzlich gilt: Alles, was über einen Hotspot läuft, wird dem Betreiber des Hotspots zugeordnet. In der Praxis ist es schwierig herauszufinden, welche Person welche Aktivität durchgeführt hat. Pedro muss sich bewusst sein, dass bei illegalen Aktivitäten von Adrian auf den ersten Blick er selber als Urheber betrachtet wird. Wenn das Foto als Pornografie taxiert wird, macht sich Adrian strafbar, da er sowohl Kinderpornografie konsumiert als auch einem unter 16-Jährigen Pornografie zugänglich macht. Wenn das Bild nicht als pornografisch taxiert wird, kann das Mädchen Anzeige gegen jede Person einreichen, die es weiterverbreitet (vgl. Kapitel 4 Pornografie). Der zugefügte Schaden und damit verbundene Schadenersatz wird in einem zivilrechtlichen Verfahren oder ev. bereits im Rahmen des Strafverfahrens beurteilt. Unabhängig von Haftungsfragen und von straf- und zivilrechtlichen Fragen sind mit Pedro und Adrian verschiedene Themen zu besprechen: Pornografie, Mobbing, Datenschutz. |
Susanna, 15, betreibt einen Beauty- und Mode-Youtube-Channel. Ab und zu erhält sie Produkte zugesandt mit der Bitte des Unternehmens, diese in einem Beitrag zu bewerben. |
Dies kann ähnlich beurteilt werden wie eine kleinere Arbeitstätigkeit wie z.B. ein Ferienjob. Bei Minderjährigen braucht es die (ausdrückliche oder stillschweigende) Einwilligung des gesetzlichen Vertreters, damit der Vertrag gültig ist. Es ist also wichtig, dass die Einrichtung die Eltern über Vorkommnisse informiert. Wichtig für Susanna: Gratisprodukte gelten als Sponsoring. Susanna muss im Beitrag auf das Produktsponsoring hinweisen. |
Hinweise zu gesetzlichen Grundlagen
Art. 17 bis Art. 19d zur Handlungsfähigkeit der Minderjährigen
Art. 300 zu Vertretung der Eltern in der Ausübung der elterlichen Sorge
Art. 301-305 zu den Rechten und Pflichten der Eltern
Art. 333: das Familienhaupt haftet für Personen, die seiner Aufsicht unterstehen
Obligationenrecht zum Auftragsverhältnis Einrichtung – Eltern
Art. 398: Haftung für getreue Ausführung