Das Jugendstrafrecht: Rechtliche Informationen für stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe

Rahel Heeg

Fachliche Beratung: Peter Mösch (Hochschule Luzern), Daniel Sollberger (Kantonspolizei Basel-Stadt / Jugend- und Präventionspolizei)

Begriffsklärungen

Das Jugendstrafrecht ist ein präventiv ausgerichtetes Sonderstrafrecht für die Altersgruppe der 10- bis 18-Jährigen. Die Sanktionen des Jugendstrafgesetzes (JStG) ersetzen die im Erwachsenenstrafrecht vorgesehenen Strafen und Massnahmen. Das strafbare Verhalten ist wie bei den Erwachsenen durch das Strafgesetzbuch und andere Strafbestimmungen definiert.

Der Strafprozess ist das Verfahren zur Ermittlung und Verfolgung strafbarer Handlungen.

Strafverfahren: Die strafrechtliche Abklärung eines Sachverhalts durch Staatsanwaltschaft und Gericht. Dies beinhaltet: Sammlung von Beweisen, Anklageerhebung, Verhandlung, Urteil.

Strafmündigkeit: Das Alter, ab welchem jemand für eine Tat bestraft werden kann, die gegen die Strafgesetzordnung verstösst. Die Strafmündigkeit beginnt in der Schweiz mit dem 10. Geburtstag: Ab diesem Alter können Kinder wegen Verstössen gegen die Strafgesetzordnung angezeigt und verurteilt werden. Zwischen 10 und 18 Jahren gilt das Jugendstrafrecht. Ab dem 18. Geburtstag gilt das Erwachsenenstrafrecht. Es gilt das Alter zum Tatzeitpunkt.

Staatsanwaltschaft, Jugendanwaltschaft: Die Staatsanwaltschaft prüft bei Erwachsenen, ob Hinweise vorliegen, dass eine strafbare Handlung begangen wurde, und ob ein Strafverfahren eröffnet werden soll. Die Jugendanwaltschaft ist zuständig, wenn der oder die Beschuldigte zwischen 10 und 18 Jahre alt ist.

Anzeigerecht: Recht, bei einem strafrechtlichen Verdacht eine Strafanzeige zu machen.

Anzeigepflicht: Pflicht, eine Straftat anzuzeigen.

Offizialdelikt: Delikt, bei dem von Amtes wegen eine Strafuntersuchung ausgelöst werden muss, wenn die Justiz- oder der Strafverfolgungsbehörden davon erfährt. Bei einem Offizialdelikt kann jede Person (nicht nur das direkte Opfer) eine Strafanzeige machen.

Antragsdelikt: Antragsdelikte sind Straftaten, die von Polizei oder Justiz nur dann verfolgt werden, wenn das Opfer einen Strafantrag stellt. Der Strafantrag muss von der geschädigten Person innerhalb von 3 Monaten seit Kenntnis der Täterschaft bei der Strafverfolgungsbehörde gestellt werden.

Amtsgeheimnis: Verbot für Behördenmitglieder und Verwaltungsmitarbeitende, Geheimnisse weiterzugeben, die im Rahmen der beruflichen Tätigkeit oder in der Eigenschaft als Behörden in Erfahrung gebracht wurden.

Berufsgeheimnis: Strafrechtliches Verbot von Mitgliedern bestimmter Berufe, Geheimnisse weiterzugeben, die sie im Rahmen der beruflichen Tätigkeit erfahren. Unter das Berufsgeheimnis fallen: Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidigerinnen, Notare, Patentanwältinnen, Ärzte, Zahnärztinnen, Chiropraktoren, Apothekerinnen, Hebammen, Psychologen und deren Hilfspersonen.

Das Berufsgeheimnis von Fachpersonen der Sozialen Arbeit ergibt sich aus dem Datenschutzgesetz, nicht aus dem Strafgesetzbuch.

Zeugnisverweigerungsrecht: Zeugin oder Zeuge ist eine an der Begehung einer Straftat nicht beteiligte Person, die der Aufklärung dienende Aussagen machen kann. Grundsätzlich sind alle urteilsfähigen Personen über 15 Jahren zeugnisfähig und zum wahrheitsgemässen Zeugnis verpflichtet. Bei engen persönlichen Beziehungen besteht das Recht auf Zeugnisverweigerung.

Ein Zivilprozess ist ein Verfahren zur Feststellung von privatrechtlichen Rechten und Rechtsverhältnissen, wenn diese unter den Parteien streitig sind. Das Verfahren wird in der Regel als Zweiparteienverfahren (Kläger und Beklagter) geführt.

Überblick über Faktenlage

Jugendstrafrecht: Das Erwachsenstrafrecht ist dem Tatprinzip verpflichtet: Die Sanktion soll der Schwere der Tatschuld entsprechen. Das schweizerische Jugendstrafrecht ist hingegen ein täterbezogenes Strafrecht: Im Vordergrund steht bei der Festlegung der Sanktion die Person, die Tat selber hat eine weniger grosse Bedeutung als bei den Erwachsenen.

Die leitenden Prinzipien im Jugendstrafrecht sind Schutz und Erziehung. Geschützt werden soll die positive Entwicklung und die persönliche und berufliche Entfaltung von Jugendlichen. Schutz umfasst die Abwehr von Gefahren, die Korrektur von Fehlentwicklungen und das Schaffen von günstigen Entwicklungsbedingungen. Die Art und Schwere jugendstrafrechtlicher Sanktionen orientiert sich nicht in erster Linie an der Tat, sondern an erzieherischen Bedürfnissen. Weil das erzieherisch Wirksame nicht aus der Tat allein abgeleitet werden kann, wird es aus der Persönlichkeit, der individuellen Entwicklung und den Lebensverhältnissen erschlossen. Es soll erreicht werden, dass die Jugendlichen keine weiteren Delikte begehen. Deshalb werden sie häufig nicht im eigentlichen Sinne bestraft, sondern es werden erzieherische und/oder therapeutische Massnahmen angeordnet. Auch «Strafen» wie z.B. die persönliche Leistung in Form eines Arbeitseinsatzes oder eines Kursbesuches haben häufig pädagogischen Charakter. Bei jugendstrafrechtlichen Verfahren wird grosser Wert auf einen schnellen Verlauf gelegt, damit das erzieherische Moment deutlich ist. Einträge im Strafregister aufgrund von jugendstrafrechtlichen Delikten gibt es nur bei einem Freiheitsentzug, bei einer Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung, bei einer offenen Unterbringung in einer Einrichtung oder bei Privatpersonen oder bei einer ambulanten Behandlung. Bei Jugendlichen werden die Einträge von Urteilen, die einen Freiheitsentzug oder eine Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung enthalten, nach zehn Jahren gelöscht, von Urteilen, die eine offene Unterbringung enthalten, nach sieben Jahren und von Urteilen die einzig eine ambulante Behandlung enthalten, nach fünf Jahren.

Anzeigerecht: Bei einem strafrechtlichen Verdacht hat jede Person oder Institution das Recht, eine Strafanzeige zu machen. Bei Antragsdelikten erfolgt eine Strafverfolgung nur bei einem Strafantrag. Ein solcher muss, soll eine Strafverfolgung erfolgen, innerhalb von drei Monaten vom Opfer resp. von dessen gesetzlicher Vertretung eingereicht werden.

Es ist möglich, bei Unsicherheit Kontakt mit der Polizei aufzunehmen und ohne Angabe von konkreten Umständen und Personen eine erste allgemeine Anfrage und Einschätzung abzuholen. Eine Kontaktaufnahme mit der Polizei führt nicht automatisch zu einem Verfahren und verpflichtet zu keinen weiteren Schritten. Auch besteht kein Zwang, bei einer Kontaktaufnahme mit der Polizei alle Fakten offenzulegen. Erst im formalen Strafverfahren besteht die Verpflichtung, alles wahrheitsgemäss zu erzählen. Ein Strafantrag kann bei Antragsdelikten nachträglich zurückgezogen werden. Wichtig zu beachten: bei Offizialdelikten ist die Justiz von Amtes wegen verpflichtet, ein Verfahren durchzuführen. Bei schwereren Delikten muss deswegen vor einer Kontaktaufnahme mit der Polizei abgewogen werden, ob ein Strafverfahren erwünscht ist (z.B. wenn ein Jugendlicher Opfer von sexualisierter Gewalt geworden ist).

Aus pädagogischer Sicht kann eine Strafanzeige gegen Jugendliche in der erzieherischen Arbeit unterstützend und präventiv wirken, sie kann aber auch inadäquat sein und pädagogische Interventionen erschweren oder gar verhindern.

Anzeigepflicht: Grundsätzlich sind laut der schweizerischen Strafprozessordnung nur Angestellte der Strafbehörden verpflichtet, Straftaten anzuzeigen, von denen sie im Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeit Kenntnis erhalten haben. Die Kantone können zusätzlich Behörden und Angestellte des Kantons und der Gemeinden verpflichten, ihnen bekannte strafbare Handlungen anzuzeigen. Kantone können umgekehrt die Anzeigepflicht für Personen aufheben, wenn diese beruflich in einem persönlichen Vertrauensverhältnis zu den Beteiligten steht. Stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind somit prinzipiell nicht zu einer Anzeige verpflichtet, ausser es bestehen davon abweichende kantonale Gesetzesnormen.

Amtsgeheimnis und Zeugnisverweigerungsrecht: Personen, die dem Amtsgeheimnis oder dem Berufsgeheimnis unterstehen, dürfen das Zeugnis verweigern, wenn ihnen in ihrer beruflichen Funktion Geheimnisse anvertraut wurden und wenn sie nicht einer Anzeigepflicht unterstehen. Stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe stehen nicht unter dem strafrechtlichen Berufsgeheimnis und häufig auch nicht unter dem Amtsgeheimnis. Sie haben damit kein Zeugnisverweigerungsrecht. Möglich ist aber, dass sie von der Staatsanwaltschaft von der Aussagepflicht befreit werden.

Direkte Verwandte (Eltern, Pflegeeltern u.a.) dürfen eine Aussage verweigern.

Bei einem Strafverfahren nach Jugendstrafrecht leitet die Jugendanwaltschaft das Verfahren. In manchen Kantonen bestehen ausserdem bei der Polizei spezialisierte Abteilungen für Kinder und Jugendliche. Ein Verfahren beinhaltet: Abklärung des Tathergangs, Abklärung der persönlichen Verhältnisse und der Entwicklung der Jugendlichen. Die Jugendanwaltschaft resp. die Polizei klären den Tathergang ab, die Jugendanwaltschaft führt die Abklärungen durch oder sie beauftragt eine Fachstelle damit, z.B. einen Sozialdienst oder einen psychologischen Dienst. Abklärungen und Begutachtungen können stationär durchgeführt werden, z.B. in einer Beobachtungsstation, einem Durchgangsheim oder einer jugendpsychiatrischen Einrichtung.

In den meisten Kantonen ist die Jugendanwaltschaft für die Strafverfolgung zuständig, in leichteren Fällen trifft sie in richterlicher Kompetenz auch den Entscheid. Bei schwereren Fällen, wo ein längerer Freiheitsentzug oder eine mit Platzierung verbundene Schutzmassnahme beantragt wird, tritt sie als anklagende Behörde vor dem Jugendstrafgericht auf.

Es können sowohl eine Schutzmassnahme als auch eine Strafe angeordnet werden. Im Vollzug hat die Schutzmassnahme Vorrang, doch kann wieder auf die «Schiene» Strafe umgeschaltet werden, wenn die Schutzmassnahme nicht durchführbar oder nicht erfolgversprechend ist (vikariierendes System).

Der Katalog der zur Verfügung stehenden Sanktionen ist sehr breit. Es besteht ein gewisses Ermessen, welche Art von Strafe bzw. Schutzmassnahme verhängt werden soll. Zum Teil bestehen besondere Voraussetzungen.

Folgende Schutzmassnahmen bestehen: Aufsicht, persönliche Betreuung, ambulante Behandlung, Unterbringung, Tätigkeitsverbot, Kontakt- und Rayonverbot (Verbot, einen bestimmten Ort aufzusuchen).

Folgende Strafen sind möglich: Verweis, persönliche Leistung, Busse, Freiheitsentzug.

Die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Sanktionen ermöglicht eine differenzierte, individualisierte Reaktion, dies hingegen auf Kosten von Gleichbehandlung und Transparenz.

Ein Strafverfahren nach Erwachsenstrafrecht wird durchgeführt, wenn die tatverdächtige Person zum Tatzeitpunkt mindestens 18 Jahre alt war. Das Strafverfahren läuft nach einem standardisierten Prozess ab. Nach einer Anzeige werden im Vorverfahren von der Polizei und der Staatsanwaltschaft Beweise gesammelt. Am Ende der Ermittlungen entscheidet die verantwortliche Staatsanwaltschaft aufgrund der Beweislage, ob sie das Strafverfahren weiterführt. Kommt der Fall vor Gericht, trägt die Staatsanwaltschaft die Anklage vor. Das Gericht fällt am Schluss das Urteil. Wer eine Strafanzeige erstattet hat, kann bei den Behörden nachfragen, ob auf die Anzeige hin ein Verfahren eingeleitet worden ist oder nicht.

Quellen/zum Weiterlesen:

Curaviva (2015): Professionelles Handeln im Spannungsfeld von Nähe und Distanz. Eine Handreichung aus Sicht der Praxis und der Wissenschaft. Link

okaj zürich, Kantonale Kinder- und Jugendförderung (2017): Alles was Recht ist: Rechtshandbuch für Jugendarbeitende. Zürich: Orell Füssli Verlag.

Peter Mösch Payot; Johannes Schleicher; Marianne Schwander; Alexandra Caplazi; Christoph Häfeli (2016): Recht für die Soziale Arbeit: Grundlagen und ausgewählte Aspekte. Bern: Haupt Verlag.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen für stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe

Grundsätze

  • Wenn Kinder/Jugendliche eine Straftat begangen haben: Bei der Entscheidung, ob eine Straftat angezeigt wird, sollte die pädagogische Frage leitend sein, ob eine Strafanzeige vermutlich unterstützend und präventiv wirkt, weil sie den Jugendlichen klar aufzeigt, dass dieses Verhalten nicht toleriert wird, oder ob dies pädagogische Interventionen erschwert oder gar verhindert.
  • Wenn Kinder/Jugendliche Opfer einer Straftat geworden sind: Bei der Entscheidung, ob eine Straftat angezeigt wird, muss abgewogen werden, welche Konsequenzen ein Strafverfahren für das Opfer hat und ob dies zumutbar ist. Hier können Opferberatungsstellen Hilfestellungen geben. Entscheide sollten im Regelfall durch den/die Betroffene gefällt werden, ausser die/der Betroffene ist nicht urteilsfähig oder es sind Dritte erheblich betroffen oder gefährdet, insbesondere wenn die Institution für diese auch Schutzpflichten wahrzunehmen hat.

Prüffragen

  • Gibt es in unserem Kanton Gesetze, welche stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zu Anzeigen verpflichten?
  • Welche Konsequenzen hat eine Anzeige für unsere pädagogische Arbeit mit der tatverdächtigen Person?
  • Welche Konsequenzen hat eine Anzeige vermutlich für das Opfer?

 

Hinweise zu gesetzlichen Grundlagen

Strafgesetzbuch:

Artikel 321: Berufsgeheimnis

Jugendstrafgesetzbuch